Fröhliche Weihnachten

Es war wirklich das schönste Modell aus dem Katalog. Annas Eltern hatten lange überlegt, ob sie sich das leisten konnten. Aber der Vater hatte ja jetzt eine gute Arbeitsstelle, und man konnte das Möbelstück bequem in Raten abzahlen. Außerdem würde es hervorragend zu der übrigen und fast neuen Wohnzimmereinrichtung passen.

Die Abbildung im Katalog zeigte den kleinen Schrank auf vier dünnen leicht ausgestellten Beinen aus Holz, die in goldfarbenen Metallkappen standen. Der Korpus war aus dunklem, auf Hochglanz poliertem Holz, und hinter einer, mit goldfarbenen Linien verzierten Glastür war ein Einlegeboden, ebenfalls aus Glas. Doch das Geheimnis des Schrankes befand sich hinter der zweiten Tür aus Holz, die man öffnete, in dem man sie vor die Glastür schob. Hinter dieser Tür war ein hochmoderner Plattenspieler eingebaut. Zehn Schallplatten konnte man aufeinander legen, und der Plattenspieler ließ eine Platte nach der anderen auf die Drehscheibe fallen und spielte die Lieder nacheinander ab. So stand es jedenfalls in der Beschreibung des Kataloges.

Eine Schallplatte mit seinem Lieblingslied hatte der Vater sich vor einiger Zeit auch schon gekauft.

Das alte Radiogerät, so planten die Eltern, sollte oben auf diesen Schrank gestellt und als Lautsprecher genutzt werden. Der Bestellschein war auch dann schnell ausgefüllt und abgeschickt. Die Lieferung sollte noch vor Weihnachten erfolgen.

Auf Annas Wunschzettel standen in diesem Jahr Schallplatten. Ihre Favoriten waren rot unterstrichen: Freddy Quinn mit: „Junge, komm bald wieder…“ und Heidi Brühl mit: „Wir wollen niemals auseinander gehen…“.

Zwei Wochen vor Weihnachten meldete das Versandhaus Lieferschwierigkeiten, doch man sicherte in spätestens einer Woche die Lieferung zu. Und tatsächlich kam ein Brief in dem mitgeteilt wurde, dass das Paket drei Tage vor Weihnachten von der nächstgelegenen Bahnstation abzuholen sei. Der Vater fuhr hin, doch das Paket war nicht auffindbar. Recherchen ergaben, dass es an einen anderen Bahnhof geliefert wurde. Die ganze Familie war in heller Aufregung. Endlich kam die Mitteilung, dass die Sendung nun eingetroffen sei. Es war der Vormittag des Heiligen Abends.

Schnell organisierte der Vater einen Nachbarn mit einem entsprechend großen Fahrzeug, und die Familie konnte am frühen Nachmittag zusehen, wie der Vater stolz begann, vorsichtig die Verpackung zu lösen.

Zuerst fiel die goldverzierte Glastür in Scherben aus der Verpackung. Vaters Gesicht wurde zusehends verkniffener. Dann endlich stand das Prachtstück auf seinem Platz. Die Die Mutter ging in die Küche und bereitete das Weihnachtsessen vor. Zuvor hatte sie die Verpackung beseitigt, die Glasscherben beiseite geräumt und das Wohnzimmer nochmals gewischt. Der Baum war noch nicht geschmückt, und es wurde immer später.

Aber der Vater wollte unbedingt noch seine Schallplatte anhören. Beim Anschließen des Stromes brach er den automatischen Hebel zum Heben und Senken des Kopfes ab. Die Lautstärke und der Inhalt seiner Worte, die er hervorstieß, passte so gar nicht zum Heiligen Abend.

Annas Mutter stürzte aus der Küche und fragte, ob der Plattenspieler denn unbedingt noch heute montiert werden müsse, der Weihnachtsbaum – und überhaupt… die Bescherung – die Kinder warteten doch schon…

Das war Zuviel für den Vater. Anna verzog sich mit ihrer Schwester in die Küche. Nach einer Weile war wieder Ruhe eingekehrt. Viel Ruhe. Vater und Mutter wechselten kein Wort mehr. Still wurde der Kartoffelsalat mit den Würstchen verzehrt. Mutter ging den Baum schmücken. Vater bastelte weiter an seiner Musiktruhe. Anna und ihre Schwester warteten.

Dann rief die Mutter die beiden Mädchen, und vorsichtig gingen sie ins Wohnzimmer. Die Kerzen brannten am Baum. Feierlich glitzerten die Kugeln und das Lametta im Licht. Unter dem Baum lagen verpackt die Geschenke. Der Vater bastelte an seiner Musiktruhe.

Anna bekam außer den üblichen Kleidungsstücken ein Buch und keine Schallplatten. Im Schein der Kerzen begann sie zu lesen. Annas Schwester spielte mit ihrer neuen Puppe. Mutter spülte Geschirr. Vater bastelte an seiner Musiktruhe.

Dann legte er seine einzige Schallplatte auf. Vorsichtig hob er den Tonarm und legte ihn sanft auf die drehende, schwarz glänzende Scheibe. Ein zufriedenes, triumphierendes Lächeln zog über sein Gesicht. Und dann töntes es aus dem Lautsprecher in die Stille des Heiligen Abends: „Adelheid, Adelheid, schenk´ mir einen Gartenzwerg…“

Schweres Leben

Großvater ist Schmied. Die Schmiede grenzt an das Wohnhaus. Darin arbeitet er von früh bis spät. Sein rechter Arm ist durch Kinderlähmung von Schulter bis zum Ellenbogen gelähmt. Trotzdem schmiedet er schwere Eisen für Wagenräder, beschlägt Pferde, schärft Sensen und repariert im Winter die Löcher in den Wärmflaschen der Dorfbewohner. Er schmiedet Schürhaken, Schlösser und Ketten, schärft Messer und Scheren und bearbeitet und repariert alles was Haus und Hof benötigen.
Vor der eigentlichen Schmiede ist eine Halle in der die Pferde stehen, wenn sie beschlagen werden. In dieser Halle werden auch die heißen Eisenräder über die hölzernen Wagenräder, mit speziellen Holzstangen an denen Haken angebracht sind, gezogen. Diese Arbeit erfordert mehrere Helfer, bei der die gesamte Familie mithelfen muss. Dann eilt mein Onkel, meine Großmutter, meine Mutter und auch vielleicht ein Nachbar herbei, denn der Eisenring muss schnellstens über das Wagenrad gezogen werden, solange er noch glühend heiß ist. Die Helfer drücken mit den Eisenstangen den heißen Eisenring herunter und Großvater eilt um die Leute und Rad herum und haut den Eisenring gleichmäßig auf das Rad. Dann riecht es in der ganzen Umgebung nach verbranntem Holz.

Muss ein Pferd beschlagen werden, braucht Großvater auch einen Helfer. Meist sind es schwere Ackergäule die neue Eisen brauchen. Großvater klopft dem Pferd ans Bein und ruft: "Huf, Huf" und oft hebt das Tier dann das Bein etwas in die Höhe. Der Helfer hält dann das Bein fest, damit Großvater die Hufe bearbeiten kann. Bei störrischen Tieren zieht und zerrt Großvater so lange, bis das Tier das Bein hebt. Da jedes Pferd eine andere Hufgröße hat, misst Großvater die Hufe aus. Mit einer Beißzange zieht er die Nägel aus den alten Eisen. Dann kratzt er den Huf aus, in den sich vielleicht Steine und anderer Schmutz eingetreten haben, die dem Pferd Schwierigkeiten bereiten können. 
In der Schmiede hat Großvater einige Hufeisen in unterschiedlichen Größen schon vorgefertigt. Die passenden Hufeisen werden in der Esse erhitzt, schnell zum Pferd gebracht und auf die Hufe gedrückt. Dann riecht die gesamte Umgebung nach verbranntem Horn. Danach wird das Eisen mit speziellen Hufnägel festgenagelt und überstehende Hornreste mit der Feile ab geraspelt.
Die eigentliche Schmiede ist hinter der Halle. Dort befindet sich an der hinteren Wand die Esse in der die Eisen glühend erhitzt werden. Rechts davon ein ständig rußiges Fenster und an der Wand davor ein Wasserhahn mit einem darunter stehenden Bottich mit immer schwarzem und öligen Wasser, in dem die heißen Eisenteile zischend gekühlt werden. An der verrußten Wand hängen unzählige Werkzeuge, Zangen, Hämmer in allen Größen und Formen. An der linken Wand, unter einem weiteren rußigen Fenster, steht eine lange Werkbank auf der ein großer Schraubstock steht. In der Mitte der Schmiede steht das wichtigste Arbeitsgerät von Großvater: Der Amboss. Der Fußboden ist aus festgestampftem Lehm und im Laufe vieler Jahre ölig schwarz geworden.
Da Großvater der einzige Schmied im weiten Umkreis ist, kommen viele Menschen aus den umliegenden Dörfern zu uns. Meine Großeltern haben daher ihr Geschäft erweitert: In einem Anbau bieten sie Haushaltswaren an. Dort stehen auf langen Regalen Teller, Tassen, Töpfe, Eimer in allen Größen. Es gibt Nägel, Schrauben und Werkzeuge in allen Variationen. 
Das dritte Standbein ist die Zweigstelle einer Bäckerei. Dafür ist Großmutter zuständig. Im Hausflur ist eine kleine Ecke abgeteilt, in der auf Regalen auf der rechten Seite Brote gelagert werden. Links, unter einem kleinen Fenster, gibt es ein weiteres Brett auf dem ein Heft und ein Bleistift liegen. In diesem Heft werden akribisch genau die Verkäufe notiert und das Geld in die daneben stehende Geldkassette gelegt. Kommt eine frische Lieferung des Bäckers, weht im ganzen Haus der köstliche Geruch des frischen Brotes. Der Bäcker packt an seinem Fahrzeug zwei, drei große Brote auf meine Unterarme und ich trage diese dann die lange Treppe hoch. Großmutter sortiert sie in die Regale ein. Als Lohn für meine Arbeit erhalten ich eine köstliche Rosinenschnecke. Ich kann es kaum erwarten, bis der Bäcker die nächste Lieferung bringt.
Eines Tages im Sommer holt mein kleiner Bruder mit seiner Gießkanne Wasser aus der Schmiede, um Blumen zu gießen. Es war uns Kindern verboten, die Schmiede zu betreten, wenn darin gearbeitet wurde. Großvater bemerkt das Kind nicht. Er schmiedet gerade ein Eisenstück und ein winziger Splitter davon fliegt meinem Bruder in ein Auge. Es folgen viele Arztbesuche, doch nichts hilft. Das Auge bleibt blind.
Dieses Unglück hat Großvater für den Rest seines Lebens sehr belastet.

Der erste Preis

Jeden Sonntag im Sommer nach dem Mittagessen machte sich mein Großvater bei gutem Wetter auf den Weg ins Nachbardorf. Dort gab es in einem Wirtshaus eine Naturkegelbahn und das Kegeln war Großvaters große Leidenschaft. Als ich so fünf, sechs Jahre alt war, durfte ich ihn öfter begleiten. Auch viele andere Gäste brachten ihre Kinder oder Enkel mit, denn die hatten eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: Nach jedem Wurf, mussten die Kegel am Ende der Bahn wieder am richtigen Platz aufgestellt werden. Bunte, schon etwas abgeblätterte Punkte markierten die Stellen auf den Holzbohlen. Mit Begeisterung rissen sich die Kinder um diese Aufgabe, denn meistens winkte als Lohn eine Limonade oder Schokolade und Bonbons.

An einen Sonntag erinnere ich mich noch sehr genau. Es war ein strahlender Frühsommertag und noch nicht zu heiß, um über den beschwerlichen Weg über die Hügel hinter unserem Haus ins Nachbardorf zu gehen. Dieses Mal gab es Preise zu gewinnen und der erste Preis war eine Kastenuhr. Obwohl der Großvater durch eine Kinderlähmung am linken Arm behindert war, war er ein guter Kegler. An diesem Tag hatte er besonderes Glück: Er gewann den ersten Preis. Großvater schulterte das Paket und stolz brachten wir das gute Stück nach Hause.

Die Uhr bekam einen Ehrenplatz im Schlafzimmer meiner Großeltern. Nur der Großvater alleine durfte sie aufziehen und das Uhrwerk in Gang setzen. Rechts und links von der Mitte des silbrigen Zifferblattes waren zwei Löcher, in die der Großvater einen einfachen Schlüssel stecken konnte, um das Uhrwerk und das Schlagwerk aufzuziehen. An einem Holzstab hing eine große runde Messingscheibe und meine größte Freude war, dass Großvater mich auf den Arm nahm und ich ganz vorsichtig das Pendel anstoßen durfte. Dann begannen sich die schwarzen Zeiger zu bewegen und zeigten auf die aufgemalten schwarzen Zahlen am goldfarbenen Rand. Das Gehäuse war aus dunkelbraunem Holz mit einem Ausschnitt und Glas über dem Zifferblatt und dem Pendel. Über dem Pendel waren die Glasscheiben mit gebogenen und geraden Messingstäben unterteilt und die Ränder der Gläser abgeschliffen. So bekam das Pendel mit jeder Bewegung ein anderes Aussehen. Wenn im Sommer die Sonne schräg durch die Fenster fiel, leuchtete das goldene Ornament auf, das oben auf dem gewölbten Sims angebracht war. Leise war das Uhrwerk nicht gerade. Das Ticken hörte man in allen angrenzenden Zimmern und die Schläge der Uhr zu jeder halben und vollen Stunde dröhnten durch das ganze Haus.

Die Uhr hing gegenüber des Ehebettes meiner Großeltern. Hatte ich etwas angestellt und meine Mutter meinte, ich müsse dafür bestraft werden, dann schloss sie mich immer in dieses Zimmer ein. Ich kroch unter die hohen Betten und weinte vor mich hin, so lange, bis das Ticken der Uhr in mein Bewusstsein drang. Dann hörte ich auf zu weinen, kroch heraus und starrte wie gebannt auf das Pendel, bis ich einschlief. Wenn ich bei meinen Großeltern im Bett übernachten durfte, tickte und bongte die Uhr mich in den Schlaf.

Einige Jahre später schlug die Uhr nicht mehr. Den Mitbewohnern ging der Lärm, den sie machte, mit den Jahre immer mehr auf die Nerven und Großvater musste das Schlagwerk abstellen. Später hieß es, die Uhr sei nun endgültig kaputt. Aus Sentimentalität oder weil sie schon so lange dort hing, blieb sie an ihrem Platz.

Dann starben meine Großeltern kurz nacheinander. Ich war bereits verheiratet und lebte nicht mehr in meinem Heimatort. Die Zimmer der Großeltern wurden leer geräumt und bis auf wenige Möbelstücke alles weggeworfen, weil es in der damaligen Zeit nicht mehr „modern“ war. Auch die Uhr war verschwunden. Außer einigen schwarz-weiß Fotografien hatte ich keinerlei Andenken an meine Großeltern.

Einige Jahre vergingen und ich geriet bei einem Besuch in einen Abstellraum. Das Licht fiel in eine Ecke, in der es golden aufleuchtete. Ich wurde neugierig und bahnte mir einen Weg durch Spinnweben über Kartons, Kisten und Kästen und entdeckte ganz verstaubt und verdreckt die Uhr meines Großvaters. Das goldfarbene Ornament war zerbrochen und hing traurig und stumpf in zwei Teilen herab. Die Scharniere waren angerostet, die Messingteile beschlagen und von einer grauen Patina überzogen. Das silberfarbene Zifferblatt hatte tiefe dunkle Kratzer. Aber die Uhr hatte die Räumung der Wohnung überstanden. Meine Mutter überließ sie mir mit den Worten: „Was willst du denn mit diesem alten Ding. Die läuft doch schon seit Jahren nicht mehr.“

Ich brachte die Uhr nach Hause, befreite sie vom Schmutz, rieb das brüchig gewordene Holz unzählige Male mit Pflegemittel ein. Dann hängte ich sie an die Wand und zog das Uhrwerk auf. Die Uhr gab keinen Laut von sich. Danach suchte ich einen Uhrmacher. Viele, bei denen ich nachfragte, konnten solche alte Uhrwerke nicht mehr reparieren. Eines Tages jedoch fand ich einen Uhrmacher, der sich damit auskannte.

Nun hängte sie bei uns im Esszimmer und tickt wie früher laut vor sich hin. Nur die dröhnenden Schläge, die habe ich auch abgestellt.

Die Stube unter dem Dach

Meine Großeltern hatten für die damaligen Verhältnisse ein großes Haus. Das erste Geschoss bestand aus einer großen Küche, in der sich das komplette Familienleben abspielte; einem kleinen Wohnzimmer, das mein Großvater gleichzeitig als Büro nutzte und dem Schlafzimmer der Großeltern. In einem weiteren Zimmer, der Nebenstubb genannt, schliefen meine Schwester und ich. Zwei Kinder meiner Großeltern wohnten mit ihren Ehepartnern und deren Kinder in dem oberen Stockwerk in vier Zimmer. Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der Bewohner des Hauses auf zwölf Personen an.
Der Bruder meines Großvaters hatte eine kleine Stube unter dem Dach für sich alleine. Die Möblierung war denkbar einfach. Sie bestand aus einem zweitürigen, einfachen Holzschrank, der im Laufe der Jahre stark nachgedunkelt war. da der Schrank nicht sehr gepflegt wurde, trocknete das Holz mit der Zeit aus und die Türen wiesen kleine Risse auf. In den Türen waren oben quadratische, undurchsichtig geriffelte Glasscheiben angebracht. Dem Schrank gegenüber stand ein hohes Bett mit vier Eckpfosten aus dem gleichen dunklen Holz.
Kein Vorhang versperrte den wunderschönen Ausblick über den Kirschbaum hinweg auf das in der Ferne auf einem Hügel stehende Schloss. Der Tisch vor dem Fenster hatte immer ein vielmals gefaltetes Stück Zeitungspapier unter einem seiner vier plumpen Beine liegen. War es, weil der Tisch unterschiedlich lange Beine hatte oder der rohe, im Laufe der Jahre stark abgetretene Holzfußboden nicht eben waren. 
Auch der daneben stehende Stuhl hatte mit dem Gleichgewicht so seine Probleme. ein verblichenes durchgesessenes Kissen von undefinierbarer Farbe zierte dieses Möbelstück. In der linken Ecke vor dem Fenster fristete ein wackeliges Drahtgestell mit einer ehemals weißen und inzwischen an vielen Stellen stark abgeblätterten Emaille-Waschschüssel sein Dasein.
Ein großer Nagel in der Wand nahm die Jacke auf, die der Bruder meines Großvaters tagsüber getragen hatte. An einem kleineren Nagel hing ein halbblinder Spiegel, dessen braune Flecken mit etwas Fantasie, die Umrisse von Hessen zeigten. Der unebene Verputz war an einigen Stellen ausgebessert worden. Die ehemals beige Farbe war mit kleinen braunen Motiven bedruckt.

Onkel - so sagte jeder zu ihm: Sein Bruder, seine Schwägerin, seine Neffen und Nichten, deren Kinder und alle Dorfbewohner. Auch ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Er war der Onkel und seit seines Lebens nicht verheiratet.
Als wir Kinder noch klein waren, warteten wir sehnsüchtig auf den Freitag. An diesem Tag bekam der Onkel seinen Wochenlohn, der in einer braunen Papiertüte steckte. Den gesamten Lohn brachte er nicht mit nach Hause, denn zuvor hatte er eingekauft: Für sich Brot, Wurst, Bier und andere Lebensmittel; für uns Kinder Bananen, Orangen, Schokolade, Bonbons und andere Süßigkeiten. Köstlichkeiten, wofür unsere Eltern und Großeltern kein Geld übrig hatten.
Wenn wir zufrieden mit der Beute abzogen, setzte der Onkel sich an den Tisch und packte sein Essen aus. Er klappte sein Taschenmesser auf  und schnitt Stücke von Wurst und Brot zurecht. Er benutzte nie eine Gabel, sondern spießte die Stücke mit seinem Messer auf und schob sich diese in den Mund. Dazu trank er Bier. Hatte das Bier seine Zunge gelöst, fing er an, von seiner Jugendzeit zu erzählen. Seine Ausbildung zum Schmied musste er, der Protestant, in einer rein katholischen Gegend verrichten. Eine Unterkunft wurde ihm im Hause seines Lehrherren gestellt. Die Wirtsleute waren streng katholisch und hatten eine hübsche Tochter. Der Onkel verliebte sich heftig in das Mädchen und sie erwiderte seine Gefühle. Sie wussten, dass ihre Eltern niemals einer Heirat mit einem Protestanten zustimmen würden. Daher trafen sie sich heimlich.
Es war Pflicht für den Onkel, sonntags mit zum katholischen Gottesdienst zu gehen. Er wurde bald zu einem fleißigen Kirchgänger, denn so konnte er seine Angebetete auch sonntags sehen und sogar offiziell neben ihr in der Kirchenbank sitzen. Schon bald konnte er sämtliche Gebete rezitieren. Seine Wirtsleute lobten ihn dafür, für seine gute Arbeit und waren sehr angetan von seinem Verhalten. Der Onkel schöpfte Hoffnung.
Eines Tages jedoch entdeckte die Frau des Schmieds die Beiden händchenhaltend hinter der Scheune. Auf der Stelle wurde der Onkel nach Hause geschickt. Kurze Zeit später nahm sich die Tochter des Schmieds das Leben. Der Onkel trauerte um das Mädchen und heiratete nie. Fortan lebte er bei seinem Bruder in der Stube unter dem Dach. Täglich lief er zu Fuß zu seiner Arbeitsstelle, die er in einem Nachbarort gefunden hatte.

Die Jahre vergingen und der Onkel konnte die schwere Schmiedearbeit nicht mehr ausführen. Er bekam monatlich eine kleine Rente ausgezahlt. Jetzt setzte er sein Geld immer mehr in Bier um. Wenn er dann betrunken war, begann er, alle katholischen Gebete zu deklamieren, die er in der Jugendzeit lernen musste. Mein Großvater war jedoch ein überzeugter Protestant und verbot seinem Bruder diese Reden. Als das nichts nützte, durfte der Onkel die Küche nicht mehr betreten. Aber er wohnte weiterhin in seiner Stube unter dem Dach.
Immer öfter kam er nun betrunken nach Hause. Mal fiel er rückwärts die Treppe hinunter, mal schlug er die Glasscheibe in der Tür kaputt. Er pflegte sich nicht mehr und roch dementsprechend. Hatte er kein Geld mehr für Bier, kam ihm alles zu Bewusstsein und er versprach, die nächste Rente meiner Großmutter zur Aufbewahrung zu geben. Doch kaum wurde ihm das Geld ausgezahlt, waren alle guten Vorsätze vergessen. Irgendwann bemühten sich die Erwachsenen nicht mehr und auch wir Kinder machten einen großen Bogen um ihn. So verging eine lange Zeit. Irgendwann bemerkte meine Großmutter, dass sie den Onkel schon länger nicht mehr gesehen und gehört hatte. Sie stieg unters Dach und klopfte an die Tür von Onkels Stube. Da keine Antwort kam, dachte sie, er sei nicht zu Hause. Sie wollte schon wieder gehen, da bemerkte sie einen eigentümlichen Geruch. Langsam drückte sie die Klinke herunter. Es war nicht abgeschlossen und die Tür ging auf.

Fassungslos schaute sie auf das Bild, das sich ihr bot: Notdürftig bekleidet lag der Onkel halb knieend tot über seinem Bett. In seinen gefalteten Händen steckte die vergilbte, zerknitterte Fotografie der Tochter des Schmiedes.