Die Stube unter dem Dach

Meine Großeltern hatten für die damaligen Verhältnisse ein großes Haus. Das erste Geschoss bestand aus einer großen Küche, in der sich das komplette Familienleben abspielte; einem kleinen Wohnzimmer, das mein Großvater gleichzeitig als Büro nutzte und dem Schlafzimmer der Großeltern. In einem weiteren Zimmer, der Nebenstubb genannt, schliefen meine Schwester und ich. Zwei Kinder meiner Großeltern wohnten mit ihren Ehepartnern und deren Kinder in dem oberen Stockwerk in vier Zimmer. Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der Bewohner des Hauses auf zwölf Personen an.
Der Bruder meines Großvaters hatte eine kleine Stube unter dem Dach für sich alleine. Die Möblierung war denkbar einfach. Sie bestand aus einem zweitürigen, einfachen Holzschrank, der im Laufe der Jahre stark nachgedunkelt war. da der Schrank nicht sehr gepflegt wurde, trocknete das Holz mit der Zeit aus und die Türen wiesen kleine Risse auf. In den Türen waren oben quadratische, undurchsichtig geriffelte Glasscheiben angebracht. Dem Schrank gegenüber stand ein hohes Bett mit vier Eckpfosten aus dem gleichen dunklen Holz.
Kein Vorhang versperrte den wunderschönen Ausblick über den Kirschbaum hinweg auf das in der Ferne auf einem Hügel stehende Schloss. Der Tisch vor dem Fenster hatte immer ein vielmals gefaltetes Stück Zeitungspapier unter einem seiner vier plumpen Beine liegen. War es, weil der Tisch unterschiedlich lange Beine hatte oder der rohe, im Laufe der Jahre stark abgetretene Holzfußboden nicht eben waren. 
Auch der daneben stehende Stuhl hatte mit dem Gleichgewicht so seine Probleme. ein verblichenes durchgesessenes Kissen von undefinierbarer Farbe zierte dieses Möbelstück. In der linken Ecke vor dem Fenster fristete ein wackeliges Drahtgestell mit einer ehemals weißen und inzwischen an vielen Stellen stark abgeblätterten Emaille-Waschschüssel sein Dasein.
Ein großer Nagel in der Wand nahm die Jacke auf, die der Bruder meines Großvaters tagsüber getragen hatte. An einem kleineren Nagel hing ein halbblinder Spiegel, dessen braune Flecken mit etwas Fantasie, die Umrisse von Hessen zeigten. Der unebene Verputz war an einigen Stellen ausgebessert worden. Die ehemals beige Farbe war mit kleinen braunen Motiven bedruckt.

Onkel - so sagte jeder zu ihm: Sein Bruder, seine Schwägerin, seine Neffen und Nichten, deren Kinder und alle Dorfbewohner. Auch ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Er war der Onkel und seit seines Lebens nicht verheiratet.
Als wir Kinder noch klein waren, warteten wir sehnsüchtig auf den Freitag. An diesem Tag bekam der Onkel seinen Wochenlohn, der in einer braunen Papiertüte steckte. Den gesamten Lohn brachte er nicht mit nach Hause, denn zuvor hatte er eingekauft: Für sich Brot, Wurst, Bier und andere Lebensmittel; für uns Kinder Bananen, Orangen, Schokolade, Bonbons und andere Süßigkeiten. Köstlichkeiten, wofür unsere Eltern und Großeltern kein Geld übrig hatten.
Wenn wir zufrieden mit der Beute abzogen, setzte der Onkel sich an den Tisch und packte sein Essen aus. Er klappte sein Taschenmesser auf  und schnitt Stücke von Wurst und Brot zurecht. Er benutzte nie eine Gabel, sondern spießte die Stücke mit seinem Messer auf und schob sich diese in den Mund. Dazu trank er Bier. Hatte das Bier seine Zunge gelöst, fing er an, von seiner Jugendzeit zu erzählen. Seine Ausbildung zum Schmied musste er, der Protestant, in einer rein katholischen Gegend verrichten. Eine Unterkunft wurde ihm im Hause seines Lehrherren gestellt. Die Wirtsleute waren streng katholisch und hatten eine hübsche Tochter. Der Onkel verliebte sich heftig in das Mädchen und sie erwiderte seine Gefühle. Sie wussten, dass ihre Eltern niemals einer Heirat mit einem Protestanten zustimmen würden. Daher trafen sie sich heimlich.
Es war Pflicht für den Onkel, sonntags mit zum katholischen Gottesdienst zu gehen. Er wurde bald zu einem fleißigen Kirchgänger, denn so konnte er seine Angebetete auch sonntags sehen und sogar offiziell neben ihr in der Kirchenbank sitzen. Schon bald konnte er sämtliche Gebete rezitieren. Seine Wirtsleute lobten ihn dafür, für seine gute Arbeit und waren sehr angetan von seinem Verhalten. Der Onkel schöpfte Hoffnung.
Eines Tages jedoch entdeckte die Frau des Schmieds die Beiden händchenhaltend hinter der Scheune. Auf der Stelle wurde der Onkel nach Hause geschickt. Kurze Zeit später nahm sich die Tochter des Schmieds das Leben. Der Onkel trauerte um das Mädchen und heiratete nie. Fortan lebte er bei seinem Bruder in der Stube unter dem Dach. Täglich lief er zu Fuß zu seiner Arbeitsstelle, die er in einem Nachbarort gefunden hatte.

Die Jahre vergingen und der Onkel konnte die schwere Schmiedearbeit nicht mehr ausführen. Er bekam monatlich eine kleine Rente ausgezahlt. Jetzt setzte er sein Geld immer mehr in Bier um. Wenn er dann betrunken war, begann er, alle katholischen Gebete zu deklamieren, die er in der Jugendzeit lernen musste. Mein Großvater war jedoch ein überzeugter Protestant und verbot seinem Bruder diese Reden. Als das nichts nützte, durfte der Onkel die Küche nicht mehr betreten. Aber er wohnte weiterhin in seiner Stube unter dem Dach.
Immer öfter kam er nun betrunken nach Hause. Mal fiel er rückwärts die Treppe hinunter, mal schlug er die Glasscheibe in der Tür kaputt. Er pflegte sich nicht mehr und roch dementsprechend. Hatte er kein Geld mehr für Bier, kam ihm alles zu Bewusstsein und er versprach, die nächste Rente meiner Großmutter zur Aufbewahrung zu geben. Doch kaum wurde ihm das Geld ausgezahlt, waren alle guten Vorsätze vergessen. Irgendwann bemühten sich die Erwachsenen nicht mehr und auch wir Kinder machten einen großen Bogen um ihn. So verging eine lange Zeit. Irgendwann bemerkte meine Großmutter, dass sie den Onkel schon länger nicht mehr gesehen und gehört hatte. Sie stieg unters Dach und klopfte an die Tür von Onkels Stube. Da keine Antwort kam, dachte sie, er sei nicht zu Hause. Sie wollte schon wieder gehen, da bemerkte sie einen eigentümlichen Geruch. Langsam drückte sie die Klinke herunter. Es war nicht abgeschlossen und die Tür ging auf.

Fassungslos schaute sie auf das Bild, das sich ihr bot: Notdürftig bekleidet lag der Onkel halb knieend tot über seinem Bett. In seinen gefalteten Händen steckte die vergilbte, zerknitterte Fotografie der Tochter des Schmiedes. 
 

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