Jeden Sonntag im Sommer nach dem Mittagessen machte sich mein Großvater bei gutem Wetter auf den Weg ins Nachbardorf. Dort gab es in einem Wirtshaus eine Naturkegelbahn und das Kegeln war Großvaters große Leidenschaft. Als ich so fünf, sechs Jahre alt war, durfte ich ihn öfter begleiten. Auch viele andere Gäste brachten ihre Kinder oder Enkel mit, denn die hatten eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: Nach jedem Wurf, mussten die Kegel am Ende der Bahn wieder am richtigen Platz aufgestellt werden. Bunte, schon etwas abgeblätterte Punkte markierten die Stellen auf den Holzbohlen. Mit Begeisterung rissen sich die Kinder um diese Aufgabe, denn meistens winkte als Lohn eine Limonade oder Schokolade und Bonbons.
An einen Sonntag erinnere ich mich noch sehr genau. Es war ein strahlender Frühsommertag und noch nicht zu heiß, um über den beschwerlichen Weg über die Hügel hinter unserem Haus ins Nachbardorf zu gehen. Dieses Mal gab es Preise zu gewinnen und der erste Preis war eine Kastenuhr. Obwohl der Großvater durch eine Kinderlähmung am linken Arm behindert war, war er ein guter Kegler. An diesem Tag hatte er besonderes Glück: Er gewann den ersten Preis. Großvater schulterte das Paket und stolz brachten wir das gute Stück nach Hause.
Die Uhr bekam einen Ehrenplatz im Schlafzimmer meiner Großeltern. Nur der Großvater alleine durfte sie aufziehen und das Uhrwerk in Gang setzen. Rechts und links von der Mitte des silbrigen Zifferblattes waren zwei Löcher, in die der Großvater einen einfachen Schlüssel stecken konnte, um das Uhrwerk und das Schlagwerk aufzuziehen. An einem Holzstab hing eine große runde Messingscheibe und meine größte Freude war, dass Großvater mich auf den Arm nahm und ich ganz vorsichtig das Pendel anstoßen durfte. Dann begannen sich die schwarzen Zeiger zu bewegen und zeigten auf die aufgemalten schwarzen Zahlen am goldfarbenen Rand. Das Gehäuse war aus dunkelbraunem Holz mit einem Ausschnitt und Glas über dem Zifferblatt und dem Pendel. Über dem Pendel waren die Glasscheiben mit gebogenen und geraden Messingstäben unterteilt und die Ränder der Gläser abgeschliffen. So bekam das Pendel mit jeder Bewegung ein anderes Aussehen. Wenn im Sommer die Sonne schräg durch die Fenster fiel, leuchtete das goldene Ornament auf, das oben auf dem gewölbten Sims angebracht war. Leise war das Uhrwerk nicht gerade. Das Ticken hörte man in allen angrenzenden Zimmern und die Schläge der Uhr zu jeder halben und vollen Stunde dröhnten durch das ganze Haus.
Die Uhr hing gegenüber des Ehebettes meiner Großeltern. Hatte ich etwas angestellt und meine Mutter meinte, ich müsse dafür bestraft werden, dann schloss sie mich immer in dieses Zimmer ein. Ich kroch unter die hohen Betten und weinte vor mich hin, so lange, bis das Ticken der Uhr in mein Bewusstsein drang. Dann hörte ich auf zu weinen, kroch heraus und starrte wie gebannt auf das Pendel, bis ich einschlief. Wenn ich bei meinen Großeltern im Bett übernachten durfte, tickte und bongte die Uhr mich in den Schlaf.
Einige Jahre später schlug die Uhr nicht mehr. Den Mitbewohnern ging der Lärm, den sie machte, mit den Jahre immer mehr auf die Nerven und Großvater musste das Schlagwerk abstellen. Später hieß es, die Uhr sei nun endgültig kaputt. Aus Sentimentalität oder weil sie schon so lange dort hing, blieb sie an ihrem Platz.
Dann starben meine Großeltern kurz nacheinander. Ich war bereits verheiratet und lebte nicht mehr in meinem Heimatort. Die Zimmer der Großeltern wurden leer geräumt und bis auf wenige Möbelstücke alles weggeworfen, weil es in der damaligen Zeit nicht mehr „modern“ war. Auch die Uhr war verschwunden. Außer einigen schwarz-weiß Fotografien hatte ich keinerlei Andenken an meine Großeltern.
Einige Jahre vergingen und ich geriet bei einem Besuch in einen Abstellraum. Das Licht fiel in eine Ecke, in der es golden aufleuchtete. Ich wurde neugierig und bahnte mir einen Weg durch Spinnweben über Kartons, Kisten und Kästen und entdeckte ganz verstaubt und verdreckt die Uhr meines Großvaters. Das goldfarbene Ornament war zerbrochen und hing traurig und stumpf in zwei Teilen herab. Die Scharniere waren angerostet, die Messingteile beschlagen und von einer grauen Patina überzogen. Das silberfarbene Zifferblatt hatte tiefe dunkle Kratzer. Aber die Uhr hatte die Räumung der Wohnung überstanden. Meine Mutter überließ sie mir mit den Worten: „Was willst du denn mit diesem alten Ding. Die läuft doch schon seit Jahren nicht mehr.“
Ich brachte die Uhr nach Hause, befreite sie vom Schmutz, rieb das brüchig gewordene Holz unzählige Male mit Pflegemittel ein. Dann hängte ich sie an die Wand und zog das Uhrwerk auf. Die Uhr gab keinen Laut von sich. Danach suchte ich einen Uhrmacher. Viele, bei denen ich nachfragte, konnten solche alte Uhrwerke nicht mehr reparieren. Eines Tages jedoch fand ich einen Uhrmacher, der sich damit auskannte.
Nun hängte sie bei uns im Esszimmer und tickt wie früher laut vor sich hin. Nur die dröhnenden Schläge, die habe ich auch abgestellt.