Der erste Preis

Jeden Sonntag im Sommer nach dem Mittagessen machte sich mein Großvater bei gutem Wetter auf den Weg ins Nachbardorf. Dort gab es in einem Wirtshaus eine Naturkegelbahn und das Kegeln war Großvaters große Leidenschaft. Als ich so fünf, sechs Jahre alt war, durfte ich ihn öfter begleiten. Auch viele andere Gäste brachten ihre Kinder oder Enkel mit, denn die hatten eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: Nach jedem Wurf, mussten die Kegel am Ende der Bahn wieder am richtigen Platz aufgestellt werden. Bunte, schon etwas abgeblätterte Punkte markierten die Stellen auf den Holzbohlen. Mit Begeisterung rissen sich die Kinder um diese Aufgabe, denn meistens winkte als Lohn eine Limonade oder Schokolade und Bonbons.

An einen Sonntag erinnere ich mich noch sehr genau. Es war ein strahlender Frühsommertag und noch nicht zu heiß, um über den beschwerlichen Weg über die Hügel hinter unserem Haus ins Nachbardorf zu gehen. Dieses Mal gab es Preise zu gewinnen und der erste Preis war eine Kastenuhr. Obwohl der Großvater durch eine Kinderlähmung am linken Arm behindert war, war er ein guter Kegler. An diesem Tag hatte er besonderes Glück: Er gewann den ersten Preis. Großvater schulterte das Paket und stolz brachten wir das gute Stück nach Hause.

Die Uhr bekam einen Ehrenplatz im Schlafzimmer meiner Großeltern. Nur der Großvater alleine durfte sie aufziehen und das Uhrwerk in Gang setzen. Rechts und links von der Mitte des silbrigen Zifferblattes waren zwei Löcher, in die der Großvater einen einfachen Schlüssel stecken konnte, um das Uhrwerk und das Schlagwerk aufzuziehen. An einem Holzstab hing eine große runde Messingscheibe und meine größte Freude war, dass Großvater mich auf den Arm nahm und ich ganz vorsichtig das Pendel anstoßen durfte. Dann begannen sich die schwarzen Zeiger zu bewegen und zeigten auf die aufgemalten schwarzen Zahlen am goldfarbenen Rand. Das Gehäuse war aus dunkelbraunem Holz mit einem Ausschnitt und Glas über dem Zifferblatt und dem Pendel. Über dem Pendel waren die Glasscheiben mit gebogenen und geraden Messingstäben unterteilt und die Ränder der Gläser abgeschliffen. So bekam das Pendel mit jeder Bewegung ein anderes Aussehen. Wenn im Sommer die Sonne schräg durch die Fenster fiel, leuchtete das goldene Ornament auf, das oben auf dem gewölbten Sims angebracht war. Leise war das Uhrwerk nicht gerade. Das Ticken hörte man in allen angrenzenden Zimmern und die Schläge der Uhr zu jeder halben und vollen Stunde dröhnten durch das ganze Haus.

Die Uhr hing gegenüber des Ehebettes meiner Großeltern. Hatte ich etwas angestellt und meine Mutter meinte, ich müsse dafür bestraft werden, dann schloss sie mich immer in dieses Zimmer ein. Ich kroch unter die hohen Betten und weinte vor mich hin, so lange, bis das Ticken der Uhr in mein Bewusstsein drang. Dann hörte ich auf zu weinen, kroch heraus und starrte wie gebannt auf das Pendel, bis ich einschlief. Wenn ich bei meinen Großeltern im Bett übernachten durfte, tickte und bongte die Uhr mich in den Schlaf.

Einige Jahre später schlug die Uhr nicht mehr. Den Mitbewohnern ging der Lärm, den sie machte, mit den Jahre immer mehr auf die Nerven und Großvater musste das Schlagwerk abstellen. Später hieß es, die Uhr sei nun endgültig kaputt. Aus Sentimentalität oder weil sie schon so lange dort hing, blieb sie an ihrem Platz.

Dann starben meine Großeltern kurz nacheinander. Ich war bereits verheiratet und lebte nicht mehr in meinem Heimatort. Die Zimmer der Großeltern wurden leer geräumt und bis auf wenige Möbelstücke alles weggeworfen, weil es in der damaligen Zeit nicht mehr „modern“ war. Auch die Uhr war verschwunden. Außer einigen schwarz-weiß Fotografien hatte ich keinerlei Andenken an meine Großeltern.

Einige Jahre vergingen und ich geriet bei einem Besuch in einen Abstellraum. Das Licht fiel in eine Ecke, in der es golden aufleuchtete. Ich wurde neugierig und bahnte mir einen Weg durch Spinnweben über Kartons, Kisten und Kästen und entdeckte ganz verstaubt und verdreckt die Uhr meines Großvaters. Das goldfarbene Ornament war zerbrochen und hing traurig und stumpf in zwei Teilen herab. Die Scharniere waren angerostet, die Messingteile beschlagen und von einer grauen Patina überzogen. Das silberfarbene Zifferblatt hatte tiefe dunkle Kratzer. Aber die Uhr hatte die Räumung der Wohnung überstanden. Meine Mutter überließ sie mir mit den Worten: „Was willst du denn mit diesem alten Ding. Die läuft doch schon seit Jahren nicht mehr.“

Ich brachte die Uhr nach Hause, befreite sie vom Schmutz, rieb das brüchig gewordene Holz unzählige Male mit Pflegemittel ein. Dann hängte ich sie an die Wand und zog das Uhrwerk auf. Die Uhr gab keinen Laut von sich. Danach suchte ich einen Uhrmacher. Viele, bei denen ich nachfragte, konnten solche alte Uhrwerke nicht mehr reparieren. Eines Tages jedoch fand ich einen Uhrmacher, der sich damit auskannte.

Nun hängte sie bei uns im Esszimmer und tickt wie früher laut vor sich hin. Nur die dröhnenden Schläge, die habe ich auch abgestellt.

Kindheit

Eine Handvoll Häuser
in sonnenglänzende Sommertage getaucht,
voller Langeweile
unter schattenspendender Linde
die Kindheit
zurückgelassen.

Erinnerungen
an Bauchschmerzen
von unreifen Äpfeln
und von Verboten bestehender Tage
in denen
mehr Pflichten als Rechte
den Erwachsenen
formten.

Feuerwerk in der Galaxie

Eine fantastische Geschichte

Es war eine düstere Novembernacht und ich war alleine zu Hause. Die Hunde des Nachbarn hatten schon ein paar Mal angeschlagen, als sie gegen Mitternacht endlich Ruhe gaben. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich bemerkte, dass es im Zimmer ganz hell wurde. Ich öffnete die Augen und sah vor der Terrassentür ein gleißendes weißes Licht flackern. Ich richtete mich im Bett auf. Plötzlich wurde es wieder dunkel und ich fragte mich, ob ich das nur geträumt hatte. Ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand und wartete darauf, wieder einschlafen zu können. Dann begannen die Hunde erneut zu bellen.

Die Terrassentür war gekippt und den Laden hatte ich nicht geschlossen. Schweren Herzens entschloss ich mich, mein warmes Bett zu verlassen und Fenster und Laden zu schließen. Im Dunkeln tappte ich mit bloßen Füssen zur Tür. Ich hatte die Entfernung schlecht eingeschätzt und knallte mit dem Kopf gegen den Schrank. Ich schimpfte und jammerte vor mich hin und da passierte es wieder. Das Zimmer füllte sich mit unwirklich hellem Licht. Gleichzeitig hörte ich ein Rauschen als ob es regnen würde. Ich öffnete die Terrassentür und konnte nicht glauben, was ich sah. Es regnete tatsächlich! Doch die Tropfen, die vom Himmel niedersanken sahen wie winzig kleine Glühbirnen aus. Sobald sie auf den Boden fielen, zerbarsten sie in unendlich viele Lichtsplitter und verlöschten dann schlagartig. Es sah aus wie ein Feuerwerk, das aber nicht am Himmel sondern auf der Erde explodierte.

Neugierig trat ich auf die Terrasse hinaus. Ich hatte ganz vergessen, dass ich keine Schuhe trug. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und der Lichtregen umschloss sie wie ein Handschuh aus Licht. Es war ein wunderschönes und angenehm warmes Gefühl. Zaghaft wagte ich mich weiter vor und das Licht übergoss mich und floss an mit herab, bis die Tropfen auf dem Boden zersprangen. Ich drehte mich zur Tür, um mich im Glas anzusehen. Doch es gab kein Spiegelbild von mir: Das Licht hatte mich aufgesogen. Als Kind hatte ich mir immer gewünscht, eine Tarnkappe wie im Märchen zu besitzen und unsichtbar zu sein. Jetzt war ich unsichtbar. Ein Jauchzer entstieg meiner Kehle und ich lief mit meinen nackten Füßen von der Terrasse herunter und auf die Wiese hinaus. So lange wie möglich wollte ich diesen wunderbaren Regen auskosten.

Ich drehte mich um und konnte das Haus nicht mehr sehen. Kein Umriss, die große Birke an der Terrasse, keine Garage – absolut nichts war mehr zu sehen. Meine Umgebung bestand nur noch aus angenehm warmen Licht. Dann fielen die Tropfen spärlicher und plötzlich setzte der Lichtregen vollends aus. Nun war ich in tiefschwarze Dunkelheit gehüllt. Nirgends auch nur die geringste Helligkeit. Kein Stern stand am Himmel, keine Straßenlampe leuchtete mehr. Dazu hörte ich auch keinerlei Geräusche mehr, außer dem Blut, das in meinen Ohren rauschte.

Vorsichtig streckte ich meine Hände aus, um meine nähere Umgebung zu erkunden. Ich drehte mich mit ausgestreckten Armen um die eigene Achse, doch ich konnte keinen Gegenstand ertasten. Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen. Oder sollte ich besser auf der Stelle bleiben und warten? Langsam kroch Panik in mir hoch. Ich musste doch schon fast am Ende des Grundstücks angekommen sein! Angestrengt starrte ich in die bleierne Schwärze bis meine Augen schmerzten. Wenn ich nur das Gartenhaus erreichen könnte! Oft hatte ich mich über die bellende Nachbarshunde aufgeregt. Jetzt wünschte ich mir das kleinste Winseln, damit ich wusste, in welcher Richtung ich mein Haus finden konnte. Doch nicht einmal das Flüstern des Windes in einem Strauch war zu hören. Ich war absolut allein! Die Dunkelheit war für meine Augen undurchdringlich. Träumte ich das vielleicht alles nur? Wachte ich gleich auf und lag in meinem Bett?

Ich tastete an mir herunter. Ich hatte meinen Schlafanzug an, keine Schuhe, keine Strümpfe. Meine Füße waren warm und ich fror nicht. Vorsichtig ging ich in die Hocke und erkundete den Boden. Das war nicht das Gras auf meiner Wiese! Der Boden fühlte sich trocken und weich an. Genau wie das rote Samtkleid, das ich als Kind immer nur an Feiertagen tragen durfte. War ich doch noch in meinem, Bett? Nur – das war nicht meine Matratze. Ich hatte keine Schmerzen, mir war warm und bis auf die aufsteigende Panik ging es mir gut. An meinem Kopf konnte ich die Beule ertasten, die ich mir vorhin am Schrank geschlagen hatte. Ein Gedanke ließ Verzweiflung in mir aufsteigen: Hatte mich dieser Lichtregen erblinden lassen? Oder der Schlag gegen den Kopf?

Angestrengt starrte ich ins Dunkel. Die langsam stärker werdende Verlassenheit versuchte ich mit den Gedanken zu bekämpfen, dass bald der Tag anbrechen musste. Es sollte jetzt bereits einige Zeit nach Mitternacht sein. Oh, ich war noch gar nicht auf den Gedanken gekommen zu rufen oder zu schreien! Ich öffnete meinen Mund doch kein Ton kam über die Lippen. Lautlos begann ich zu weinen. Immer heftiger flossen die Tränen aus meinen Augen. Sie liefen über meine Wangen, benetzten meinen Schlafanzug und tropften auf den Boden. Ich konnte fühlen, wie sich auf dem samtweichen Boden ein kleiner feuchter Fleck bildete.

Da hörte ich auf einmal ein Summen und Wispern, das schlagartig meine Umgebung von allen Seiten erfüllte. Etwas war in meiner Nähe. Ich fühlte, dass ich nicht mehr alleine war. Worte konnte ich noch immer nicht formen und wusste nicht, wie ich mich bemerkbar machen sollte. Dann spürte ich eine Berührung an meiner Schulter. Der Kontakt war so leicht, dass ich zuerst dachte, das Blatt eines Baumes sei auf mich gefallen. Nun konnte ich eine Stimme in meinem Kopf hören, die das Wesen in seinen Gedanken formte. Von den anderen hörte ich nur das Wispern und raunen. Nun begriff ich: Ich musste die Geschöpfe berühren, einen Gedanken formen und so konnten sie mich verstehen. Ich berührte das mir am nächsten stehende Wesen und formte in Gedanken die Frage nach meinem Aufenthaltsort.

Das Wesen antwortete mit mittels seiner Gedanken, dass durch eine Erschütterung ihres Planeten in seiner Laufbahn ihr Regelungssystem ausgefallen sei. Dadurch wurde ich mit dem Lichtregen in die Zwischenwelt der Aganas gezogen. Die Aganas lebten auf dem Planeten Agan in der Galaxie A5C hinter der Milchstraße. Sie hatten nicht bemerkt, dass ich mich in ihrer Welt befand. Die Aganas kannten weder Wasser noch Feuchtigkeit und erst als ich zu weinen begann und meine Tränen auf den Boden fielen, schlugen ihre Überwachungssysteme Alarm. Sie teilten mir mit, dass sie mich so schnell wie möglich wieder in meine Umgebung zurück bringen mussten, denn in ihrer Welt würde ich in kürzester Zeit austrocknen. Auch Zeit war den Aganas unbekannt und in ihrer Galaxie gab es keine Sonne. Das einzige Licht brachte der Lichtregen, der unregelmäßig auftritt. Durch die Erschütterung ihres Planeten wurde der Lichtregen an Agan vorbei geleitet und war auf den Teil der Erde getroffen, auf dem sich mein Garten befindet, bevor sie das System reparieren konnten. Sie begannen zu beraten, wie sie mich wieder zurückbringen konnten. Die meisten von ihnen verließen meine Umgebung, doch einige blieben in meiner Nähe. Ihre Anwesenheit beruhigte mich. Ich konnte sie zwar nicht sehen, konnte aber das Raunen vernehmen, das ihre Gedanken erzeugten. Bald hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren und irgendwann füllte sich der Raum wieder mit Geräuschen und Gewisper. Mir wurde über die Gedanken mitgeteilt, dass sie eine Möglichkeit gefunden hatten, mich wieder zur Erde zu bringen.

Ich erwachte in meinem Bett. Verwundert rieb ich mir die Augen. Was hatte ich nur für einen Traum gehabt! Ich schlug die Decke zurück und stand auf. Mein weißer Schlafanzug war mit nachtschwarzen Fusseln bedeckt und die Jacke war in Brusthöhe feucht. Die Beule am Kopf schmerzte und als ich an mir herunter blickte, sah ich, dass meine Füße schmutzig waren.

Der Anrufbeantworter blinkte und zeigte fünf Aufzeichnungen an. Alle Anrufe waren von meiner Freundin. Sie hatte vergeblich versucht, mich telefonisch zu erreichen. Ich war gestern Abend nicht zu unserer Verabredung erschienen. Sie hatte auch am Haus geklingelt und da ich nicht reagiert hatte, ging sie um das Haus herum und bemerkte die offene Terrassentür. Im Haus konnte sie mich nicht finden und schloss die Terrassentür als sie ging. Ich solle mich umgehend bei ihr melden, denn sie mache sich große Sorgen. Falls ich sie bis um zwölf Uhr nicht kontaktiert hätte, würde sie mich bei der Polizei als vermisst melden.

Ich öffnete die Terrassentür und trat fröstelnd hinaus. Eine fahle Novembersonne blinzelte durch die Zweige der Birke in den Garten. Die spärlichen Sonnenstrahlen ließen winzige kleine Splitter am Rande der Terrasse aufleuchten.

Die Stube unter dem Dach

Meine Großeltern hatten für die damaligen Verhältnisse ein großes Haus. Das erste Geschoss bestand aus einer großen Küche, in der sich das komplette Familienleben abspielte; einem kleinen Wohnzimmer, das mein Großvater gleichzeitig als Büro nutzte und dem Schlafzimmer der Großeltern. In einem weiteren Zimmer, der Nebenstubb genannt, schliefen meine Schwester und ich. Zwei Kinder meiner Großeltern wohnten mit ihren Ehepartnern und deren Kinder in dem oberen Stockwerk in vier Zimmer. Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der Bewohner des Hauses auf zwölf Personen an.
Der Bruder meines Großvaters hatte eine kleine Stube unter dem Dach für sich alleine. Die Möblierung war denkbar einfach. Sie bestand aus einem zweitürigen, einfachen Holzschrank, der im Laufe der Jahre stark nachgedunkelt war. da der Schrank nicht sehr gepflegt wurde, trocknete das Holz mit der Zeit aus und die Türen wiesen kleine Risse auf. In den Türen waren oben quadratische, undurchsichtig geriffelte Glasscheiben angebracht. Dem Schrank gegenüber stand ein hohes Bett mit vier Eckpfosten aus dem gleichen dunklen Holz.
Kein Vorhang versperrte den wunderschönen Ausblick über den Kirschbaum hinweg auf das in der Ferne auf einem Hügel stehende Schloss. Der Tisch vor dem Fenster hatte immer ein vielmals gefaltetes Stück Zeitungspapier unter einem seiner vier plumpen Beine liegen. War es, weil der Tisch unterschiedlich lange Beine hatte oder der rohe, im Laufe der Jahre stark abgetretene Holzfußboden nicht eben waren. 
Auch der daneben stehende Stuhl hatte mit dem Gleichgewicht so seine Probleme. ein verblichenes durchgesessenes Kissen von undefinierbarer Farbe zierte dieses Möbelstück. In der linken Ecke vor dem Fenster fristete ein wackeliges Drahtgestell mit einer ehemals weißen und inzwischen an vielen Stellen stark abgeblätterten Emaille-Waschschüssel sein Dasein.
Ein großer Nagel in der Wand nahm die Jacke auf, die der Bruder meines Großvaters tagsüber getragen hatte. An einem kleineren Nagel hing ein halbblinder Spiegel, dessen braune Flecken mit etwas Fantasie, die Umrisse von Hessen zeigten. Der unebene Verputz war an einigen Stellen ausgebessert worden. Die ehemals beige Farbe war mit kleinen braunen Motiven bedruckt.

Onkel - so sagte jeder zu ihm: Sein Bruder, seine Schwägerin, seine Neffen und Nichten, deren Kinder und alle Dorfbewohner. Auch ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Er war der Onkel und seit seines Lebens nicht verheiratet.
Als wir Kinder noch klein waren, warteten wir sehnsüchtig auf den Freitag. An diesem Tag bekam der Onkel seinen Wochenlohn, der in einer braunen Papiertüte steckte. Den gesamten Lohn brachte er nicht mit nach Hause, denn zuvor hatte er eingekauft: Für sich Brot, Wurst, Bier und andere Lebensmittel; für uns Kinder Bananen, Orangen, Schokolade, Bonbons und andere Süßigkeiten. Köstlichkeiten, wofür unsere Eltern und Großeltern kein Geld übrig hatten.
Wenn wir zufrieden mit der Beute abzogen, setzte der Onkel sich an den Tisch und packte sein Essen aus. Er klappte sein Taschenmesser auf  und schnitt Stücke von Wurst und Brot zurecht. Er benutzte nie eine Gabel, sondern spießte die Stücke mit seinem Messer auf und schob sich diese in den Mund. Dazu trank er Bier. Hatte das Bier seine Zunge gelöst, fing er an, von seiner Jugendzeit zu erzählen. Seine Ausbildung zum Schmied musste er, der Protestant, in einer rein katholischen Gegend verrichten. Eine Unterkunft wurde ihm im Hause seines Lehrherren gestellt. Die Wirtsleute waren streng katholisch und hatten eine hübsche Tochter. Der Onkel verliebte sich heftig in das Mädchen und sie erwiderte seine Gefühle. Sie wussten, dass ihre Eltern niemals einer Heirat mit einem Protestanten zustimmen würden. Daher trafen sie sich heimlich.
Es war Pflicht für den Onkel, sonntags mit zum katholischen Gottesdienst zu gehen. Er wurde bald zu einem fleißigen Kirchgänger, denn so konnte er seine Angebetete auch sonntags sehen und sogar offiziell neben ihr in der Kirchenbank sitzen. Schon bald konnte er sämtliche Gebete rezitieren. Seine Wirtsleute lobten ihn dafür, für seine gute Arbeit und waren sehr angetan von seinem Verhalten. Der Onkel schöpfte Hoffnung.
Eines Tages jedoch entdeckte die Frau des Schmieds die Beiden händchenhaltend hinter der Scheune. Auf der Stelle wurde der Onkel nach Hause geschickt. Kurze Zeit später nahm sich die Tochter des Schmieds das Leben. Der Onkel trauerte um das Mädchen und heiratete nie. Fortan lebte er bei seinem Bruder in der Stube unter dem Dach. Täglich lief er zu Fuß zu seiner Arbeitsstelle, die er in einem Nachbarort gefunden hatte.

Die Jahre vergingen und der Onkel konnte die schwere Schmiedearbeit nicht mehr ausführen. Er bekam monatlich eine kleine Rente ausgezahlt. Jetzt setzte er sein Geld immer mehr in Bier um. Wenn er dann betrunken war, begann er, alle katholischen Gebete zu deklamieren, die er in der Jugendzeit lernen musste. Mein Großvater war jedoch ein überzeugter Protestant und verbot seinem Bruder diese Reden. Als das nichts nützte, durfte der Onkel die Küche nicht mehr betreten. Aber er wohnte weiterhin in seiner Stube unter dem Dach.
Immer öfter kam er nun betrunken nach Hause. Mal fiel er rückwärts die Treppe hinunter, mal schlug er die Glasscheibe in der Tür kaputt. Er pflegte sich nicht mehr und roch dementsprechend. Hatte er kein Geld mehr für Bier, kam ihm alles zu Bewusstsein und er versprach, die nächste Rente meiner Großmutter zur Aufbewahrung zu geben. Doch kaum wurde ihm das Geld ausgezahlt, waren alle guten Vorsätze vergessen. Irgendwann bemühten sich die Erwachsenen nicht mehr und auch wir Kinder machten einen großen Bogen um ihn. So verging eine lange Zeit. Irgendwann bemerkte meine Großmutter, dass sie den Onkel schon länger nicht mehr gesehen und gehört hatte. Sie stieg unters Dach und klopfte an die Tür von Onkels Stube. Da keine Antwort kam, dachte sie, er sei nicht zu Hause. Sie wollte schon wieder gehen, da bemerkte sie einen eigentümlichen Geruch. Langsam drückte sie die Klinke herunter. Es war nicht abgeschlossen und die Tür ging auf.

Fassungslos schaute sie auf das Bild, das sich ihr bot: Notdürftig bekleidet lag der Onkel halb knieend tot über seinem Bett. In seinen gefalteten Händen steckte die vergilbte, zerknitterte Fotografie der Tochter des Schmiedes. 
 

Gedanken

Der Schlaf ist verschwunden
ich denke schon seit Stunden
über Leben und Geld
und das Unglück in der Welt
vorbei ist die Ruhe
ich denke ich tue
die Geister vertreiben
und beginne zu schreiben.

Leben

Aus den Mauern der Endlichkeit
lähmend
langsam
kriechen die Schatten des Seins
vom Abfall des Lebens 
überwuchert
wachsen die Summen 
der Fehler.

Lebensmitte

Katapultiert
aus der Ignoranz der Jugend
erstaunter Rückblick
auf den Scherbenhaufen verflossener Jahre
qualvolle Gedanken
umsäumen die imprägnierte Wirklichkeit
wohin
wofür
gähnende Abgründe
gleichen den Blick in die Zukunft
doch Hoffnung lässt Sinne forschen
nach neuen Bestimmungen.

Mai

Knallgrüne Gräser
platzen aus fettem Boden
Farben brechen durch dunkle Winkel
die Vegetation verströmt betäubenden Duft
krabbelndes Getier
verlässt die fruchtbare Schlammigkeit der Erde
ähnlich einem plätschernden Bach
rinnen die Ameisen
Pflanzen recken sich
in die Kargheit der Landschaft
die Natur explodiert
unaufhaltsam.

erwachsen sein

die last der verantwortung
rundet die schultern
das gefühl 
etwas beweisen zu müssen
zeigt ein defizit
der fähigkeiten
in der menge verloren
in abgründe von unzufriedenheit
versunken
zuflucht
in träumen
beim streben nach vollkommenheit
die hausgemachte bitterkeit
ausgespuckt
zwischen den zweifeln
den nächsten tag planen.

Sommerregen

Der Himmel
spannt einen Schleier
über die Bäume
dunkle Wolken
saugen die Farbe aus
dem Gras
die scharfen Schatten
der Häuser
ausradiert
Mauern schwitzen Dunst aus
erste Tropfen
lassen Wasserkugeln aufspringen
in der Luft 
klebt Staub
Mattigkeit
überfällt das Land
Regenschirme bilden
eine Verteidigungslinie
gegen
die Elemente.