Jahre hatte Eva darauf gewartet. Es war ein Tag zum Verlieben. Kaiserwetter sagen die Leute dazu. Schon tausend Mal hatte sie in Gedanken dieses Picknick vorbereitet; den Korb dazu bereits vor Jahren gekauft. Tief im Schrank schlummerte er für den großen Tag. Eva spürte ihr Herz im Hals klopfen. Hoffentlich ging nichts schief. Dieser Tag würde sie für immer erlösen. Danach war sie am Ziel.
Sie hatte die Wiese schnell wieder gefunden. Diese Gegend im Taunus war für immer in ihr Gedächtnis gebrannt. Die Umgebung hatte sich schon verändert. In den zehn Jahren waren neue Straßen gebaut worden. Das in der Nähe liegende Dorf wuchs mit seinen hübschen Einfamilienhäusern stetig in Richtung der Wiese. Durch dichtes Gestrüpp abgeriegelt, lag sie aber noch immer einsam und wie unberührt am Waldrand.
Schnell noch ein prüfender Blick in den Spiegel: Gut sah sie aus. Verlockend in ihrem geblümten, vorne durchgeknöpften Trägerkleid. Sie öffnete noch die zwei untersten Knöpfe und nickte sich bestätigend zu. Ein zweiter Blick durch die Wohnung: Das möbliert gemietete Appartement sah unbewohnt und klinisch rein aus. Nun musste sie sich beeilen. Sie klemmte eine Decke und den mit Leckerbissen gefüllten Picknickkorb auf den Gepäckträger des Fahrrades und radelte zum vereinbarten Treffpunkt.
Schon von Weitem sah sie den Parkplatz auf dem Jens gerade sein Fahrrad aus seinem Auto holte. Evas Herz machte einen Sprung. Gut sah er aus in seinem einfachen weißen T-Shirt, der Jeans und den Turnschuhen. Sonst hatte sie ihn immer nur im Anzug gesehen. Atemlos kam sie bei ihm an. Er lächelte und blickte ihr nachdenklich in das erhitzte Gesicht. Ob er sich doch an sie erinnerte? Sie drehte sich schnell um und nestelte am Picknickkorb. Als sie dann hoch blickte, war sein Blick wieder neutral. Leise und erleichtert atmete sie aus. Trotz seines jungenhaften Lachens sah man ihm an, dass er eine schwere Zeit durchgemacht hatte. Silberne Fäden durchzogen bereits seine Haare. Sie stiegen auf die Räder und radelten aus Frankfurt heraus dem nahen Taunus zu.
Eva gab sich witzig und lustig. Jens wurde immer gelöster. Irgendwann begann er dann sein Herz auszuschütten und erzählte von den schweren Verkehrsunfall, den seine Frau und seine beiden Kinder erlitten hatten. Sie waren auf einer einsamen Landstraße von der Straße gedrängt worden, eine Böschung hinunter gestürzt und frontal an einen Baum gestoßen. Alle Insassen verbrannten im Fahrzeug. Der Unfallverursacher begann Fahrerflucht. Bis jetzt hatte die Polizei noch keine Spur. Behutsam lenkte Eva seine trüben Gedanken ab. Sie brachte ihn vermehrt mit lustigen Anekdoten zu Lachen. Er gestand ihr, dass er das erste Mal seit dem schlimmen Ereignis mit seiner Familie wieder Freude am Leben spüren würde. Das verdanke er Eva.
Sie waren auf der Wiese angekommen. Ein grüblerischer Blick huschte ihm über das Gesicht. Erkannte er die Stelle wieder? Schnell breitete Eva die Decke aus, ließ sich darauf nieder und öffnete den Korb. Frische Brötchen, Kartoffelsalat, kaltes Hühnchen, köstliche Fleischbällchen, Obst, Rotwein und Sekt kamen zum Vorschein. Jens freute sich, dass Eva seinen Lieblingswein erraten hatte. Sie schenkte ihm das blutrot funkelnde Getränk ins Glas. Eva trank Sekt. Sie stießen an, sie aßen und Eva schenkte Jens fleißig Wein nach.
Nach einer Weile bemerkte Eva die Veränderung an Jens. Er begann zu schwitzen. Sein Gesicht wurde zunehmend blasser. Dann kippte er nach hinten. Seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr. Eva beugte sich lachend über ihn. Verzweiflung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er wollte etwas sagen, doch er konnte keine Worte mehr formen. Eva wusste, dass er hören konnte und sein Verstand klar war. Eine Viertelstunde hatte sie noch. Hilflos und angsterfüllt blickte er sie an.
Langsam zog sie die blonde Kurzhaarperücke vom Kopf und nahm die blauen Kontaktlinsen aus den Augen. Zufrieden sah Eva wie in seinem Blick panikartiges Erkennen aufblitzte. Ihr Lächeln wurde eisig. Voller Verachtung schaute sie nun auf ihn herab. Dann begann sie ihm ins Gesicht zu schleudern: „Ah, ich sehe, du erinnerst dich wieder an den Nachhauseweg von unserem Betriebsfest. Ich habe geschrien und gebettelt, aber das hat dich nur noch mehr gereizt. Die zweideutigen Bemerkungen der Kollegen hinter meinem Rücken in den folgenden Wochen ließen jeden Tag zu einem Spießrutenlauf werden. Dein höhnisches Lachen klingt mir jetzt noch in den Ohren, als ich dir von meiner Schwangerschaft erzählt habe. Der Hochzeitstermin mit deiner Verlobten stand ja bereits fest. was musst du erleichtert gewesen sein, als ich meine Stelle gekündigt habe. Meine Eltern haben meine Tochter erzogen. Vor zwei Jahren wurden alle bei einem Verkehrsunfall getötet. Den Unfall mit deiner Familie habe ich verursacht. Ich wollte, dass du auch fühlst, was ich gefühlt habe: Schmerz, Trauer, Hilflosigkeit und Erniedrigung. Das Gift, das du getrunken hast, wird dich nicht töten. Du wirst weiterleben, doch du wirst immer auf fremde Hilfe angewiesen sein. Du wirst denken können aber dich nicht mitteilen können. Deine Glieder werden gelähmt bleiben. In ein paar Minuten verlierst du das Bewusstsein. Ich sorge dafür, dass du rechtzeitig gefunden wirst. Adieu.“
Eva packte in aller Eile ihren Picknickkorb. Sie stand auf, schüttelte die langen dunklen Haare zurecht und verließ mit ihrem zuvor auf dem Uni-Gelände gestohlenen Fahrrad die Wiese.
Knapp zwei Stunden später raste ein Notarztwagen mit Blaulicht durch das Dorf im Taunus. In diesem Moment bekam der Airbus LH524 nach New York Starterlaubnis. Eva hatte einen Fensterplatz bekommen.